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Parallel Lives
Ein Dokumentarfilm von Frank Matter, 139 Min., CH 2021
Director's Note
«Der Chronist, welcher die Ereignisse hererzählt, ohne große und kleine zu unterscheiden, trägt damit der Wahrheit Rechnung, dass nichts was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist.»
«Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten.»
Walter Benjamin
Ich erinnere mich noch an die Namen, und wenn ich die Augen schliesse, sehe ich kindliche Gesichter vor mir, manche unscharf und verblasst, andere erstaunlich lebendig. Es gab in meiner Primarschulklasse Dicke und Dünne, Mauerblümchen und Angeber, Arbeitertöchter und Kleingewerblersöhne. Trotz der sozialen und kulturellen Unterschiede prägten die Gemeinsamkeiten unser Selbstverständnis stärker als die Gegensätze: Wir lebten im selben Dorf, waren Kinder des Wirtschaftsbooms, wir lachten über dieselben Witze, sahen Teleboy und Raumschiff Enterprise, liebten Emil, Wienerschnitzel und Coupe Danmark. Im Vergleich zu heute wuchsen wir in einer relativ homogenen Gesellschaft auf. Die meisten von uns waren noch nie im Ausland gewesen, und es gab in unserer Klasse nur zwei, drei Kinder, deren Eltern aus einem anderen Land eingewandert waren. Unsere Grosseltern lebten seit Jahrzehnten in derselben Wohnung und arbeiteten ein Leben lang für denselben Arbeitgeber.
Vor einigen Jahren habe ich viele meiner ehemaligen Schulkamerad*innen an einer Klassenzusammenkunft wieder getroffen. Manche hatte ich seit 1977 nicht mehr gesehen. Fasziniert lauschte ich den Erzählungen. Einige Lebensgeschichten schienen vorbestimmt durch das Umfeld, in denen die Erzähler*innen aufgewachsen waren, andere Schulfreund*innen hingegen waren überraschende Wege gegangen.
Die Gespräche an jenem Abend riefen Erinnerungen aus meinem eigenen Leben wach. So musste ich an den Onkel denken, der lange mein Lieblingsonkel gewesen war. Mit ihm gab es immer grosse Abenteuer zu erleben. Er besass ein Boot auf dem Zürichsee, zudem assen wir mit ihm fast jeden Tag auswärts, und ich liebte Boote und Restaurants. Später hielt er mir lange Vorträge über seine Lebensansichten, etwa darüber, dass «Neger» zwar fröhliche Menschen seien, aber doch ziemlich kindisch, zu kindisch, um ernsthaft zu arbeiten oder selber ein Land zu regieren. Kein Wunder, dass ich mich mit ihm fürchterlich zerstritt, als in der Pubertät mein politisches Bewusstsein erwachte und ich begann, mich gegen das Apartheid-Regime zu engagieren.
Dann stellte sich eine andere Erinnerung ein: Im Religionsunterricht zeigte uns der Pfarrer manchmal grässliche Bilder von Hungersnöten, Kriegsgebieten und Slums. «Seht, wie viel Elend es gibt in dieser Welt!» rief der Gottesmann donnernd durch den Pfarreisaal, nur um uns sofort zu versichern, es sei allein der Gnade Gottes zu verdanken, dass es uns so viel besser gehe als anderen, denn der Schöpfer hätte uns auch in Mali oder Vietnam auf die Welt setzen können. Deshalb, fuhr der Priester fort, sollten wir aus Dank einen Teil unseres Taschengeldes für die Armen spenden. Und statt zu quengeln und zu jammern, wenn etwas nicht nach unserem Wunsch ging, sollten wir uns glücklich schätzen, dass wir in der Schweiz leben durften. «Demut, Kinder, Demut», bläute uns der Geistliche ein, das zeichne einen wahren Christen aus!
Die pfarrherrlichen Worte beschäftigten meinen kindlichen Geist. Ich fragte mich, warum Gott gerade mir die Gnade erwiesen hatte, in einem reichen, friedlichen Land zur Welt zu kommen statt im guatemaltekischen Bürgerkrieg? Und was hätte es bedeutet, wenn ich woanders geboren worden wäre: Wäre ich dennoch ich oder wäre ich ein Anderer? Und was ist denn überhaupt das sogenannte Ich, nur ein zufälliges Gefüge, dessen Beschaffenheit im Wesentlichen von Ort und Zeit abhängt? Träfe Letzteres zu, dachte ich, wäre die Gnade Gottes, von welcher der Pfarrer gesprochen hatte, keine persönliche, mir zugedachte Geste, sondern ebenso ein Produkt des Zufalls wie mein Ich.
Die Erinnerungen an diese existenziellen Erwägungen eines Dreikäsehochs begleiteten mich an jenem Abend auf dem Rückweg vom Klassentreffen nach Hause. In den folgenden Tagen dachte ich viel über die mannigfaltigen Beziehungen zwischen Zeit und Ort, Gesellschaft und Individuum, Wahrnehmung und Bewusstsein nach.
Da nahm langsam ein Einfall Gestalt an: Ich wollte die Geschichten einer Handvoll Menschen erzählen, die am selben Tag wie ich zur Welt gekommen waren, jedoch in anderen Ländern und unter völlig unterschiedlichen Bedingungen. Meine eigene Geschichte sollte als Folie dienen, durch die ich die Biographien meiner Zwillinge betrachte. Die Welt hat sich seit meiner Geburt stark verändert, von der Entkolonisierung Afrikas über den gesellschaftlichen Umbruch nach dem Mai 68 bis zum Untergang der realsozialistischen Systeme, von der Öffnung der Kapitalmärkte bis zur zunehmenden Akzeptanz von sexuellen Minderheiten. Ich wollte der Frage nachspüren, wie die Veränderungen in der Aussenwelt unser Bewusstsein und die Wahrnehmung formten und wie gleichzeitig Bewusstsein und Wahrnehmung unser Handeln und so die Epoche prägten. Was ist mit mir und meinen Zwillingen passiert im Spannungsfeld von Befreiung und Entwurzelung, persönlicher Freiheit und Vereinsamung, Emanzipation und Bevormundung, Toleranz und Gleichgültigkeit?
Mit viel Enthusiasmus machte ich mich auf die Suche nach den Kindern des 8. Juni 1964. Schon durch eine einfache Google-Recherche stiess ich auf mehrere bekannte Zeitgenossen, die am selben Tag das Licht der Welt erblickt hatten wie ich, etwa einen Olympia-Mittelstreckenläufer und den Toningenieur von Bob Dylan. Besonders faszinierend fand ich die Kosmonautentochter Yelena Adrianovna Nikolayeva, das allererste Kind, dessen Eltern beide im All gewesen waren. Ich schrieb ihr wiederholt an eine E-Mail-Adresse, die ich online fand, und versuchte, sie mit Hilfe einer russischsprechenden Freundin auch telefonisch zu erreichen. Doch sie beantwortete meine Anfragen nicht.
Über Facebook-Inserate und mit Hilfe von lokalen Rechercheur*innen vertiefte ich die Suche. Dabei konzentrierte ich mich vor allem auf Orte, die in meiner eigenen Biographie eine wichtige Rolle gespielt hatten: Südafrika, die USA, Paris und China. Im Lauf der Monate wuchs die Zahl der möglichen Protagonisten auf rund drei Dutzend an. Nachdem ich mich mit vielen von ihnen ausgetauscht und einige persönlich besucht hatte, entschied ich mich für vier von ihnen. Klare Kriterien hatte ich keine; ich liess mich bei der Auswahl durch meine Intuition inspirieren.
In «Parallel Lives» erzählen die Protagonisten aus radikal subjektiver Haltung, wie sie die Zeitgeschichte seit dem Juni 1964 erlebt haben. Der Film ist ein vielschichtiger Bilderbogen, der die Zuschauer*innen auf eine bewegende Reise mitnimmt und mit den Mitteln des Kinos spannende und verrückte Geschichten erzählt. Natürlich kommen in «Parallel Lives» auch die grossen historischen Trends und die herausragenden Ereignisse vor; manche dieser Geschehnisse haben die Protagonisten am eigenen Leib miterlebt, von anderen haben sie nur am Rande erfahren und von einigen weiteren wiederum gar nichts mitbekommen. Aber auch wenn wir als Individuen in einer ständigen Interaktion mit Zeit und Umwelt stehen, hat letztlich jeder nur sein Leben, seine Erfahrung, seine Erinnerungen, und diese Erinnerungen sind in konstanter Veränderung begriffen, ständig neu geformt durch die Gegenwart. Diese Dialektik, die das menschliche Dasein so fundamental prägt, lotet der Film aus. Dabei bedient er sich einer dynamischen, sich ständig wandelnden (und ebenfalls dialektischen) Verschränkung von Bild, Ton und Erzählung.
Frank Matter